Selja Ahava - Der Tag an dem ein Wal durch London schwamm

Buchempfehlung von Katja Staats (Buchhandlung Slawski):

 

Selja Ahava

Der Tag an dem ein Wal durch London schwamm

übersetzt von Stefan Moster

Original: Eksyneen muistikirja

 

 

Die junge finnische Autorin Selja Ahava schafft mit Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm einen wunderbaren Roman über das Erinnern und Vergessen.

 

Anna, die Protagonistin, wächst in Finnland auf. Sie findet die Liebe ihres Lebens, Antti, ein Filmemacher, der sich auf die Dokumentation des Lebens von Wolfskindern spezialisiert hat, mit dem sie im Sommer auf einer kleinen Insel lebt. Anna und Antti sind glücklich, teilen gleiche Leidenschaften (z.B. das Schreiben von Listen), jedoch bekommen sie keine Kinder und ein Schicksalsschlag beendet ihre Beziehung und alles bisher Dagewesene von einer Sekunde auf die andere. Antti verunglückt tödlich bei einem Verkehrsunfall. Annas Welt gerät völlig aus den Fugen. Sie schafft es irgendwie sich wieder zu fangen und geht fort aus der Heimat. Fort von der Insel. Fort von der Trauer – um zu vergessen.  Anna muss in Bewegung bleiben.

 

Dieses Motiv taucht an vielen Stellen auf. Sie geht. Schließlich geht sie nach London, lernt Thomas kennen und zieht mit ihm zusammen. Sie scheint wieder zur Ruhe zu kommen, doch Annas Welt ist nur scheinbar wieder in Ordnung. An vielen Stellen hat Anttis Tod schwere Spuren hinterlassen und eine Sehnsucht nach einem anderen Leben. Dies wird besonders deutlich, als Annas sechs imaginierte Kinder auftreten. Sie tauchen zu verschiedenen Begebenheiten an verschiedenen Orten auf und erinnern Anna an die Zeit mit Antti und wie alles hätte werden können, wenn das Schicksal es anders gewollt hätte. Anna verlässt Thomas, indem sie einfach eines Tages losgeht und nicht wieder umkehrt. Sie geht, geht, geht... um des Vergessens Willen. Sie schläft in der U-Bahn und im Flughafen. Als sie schließlich wieder allein in eigenen vier Wänden lebt, wirft sie erneut der Tod aus der Bahn. Sie findet im Wald eine Frauenleiche. Ab hier wird Annas Wunsch nach dem Vergessen Realität. Ihr Weg in die Demenz beginnt und schließlich kommt sie in ein Pflegeheim.

 

Das Ambivalente Verlangen nach Erinnern und Vergessen ist das zentrale Motiv des Romans von Selja Ahava. Nicht chronologisch, sondern wie das Erinnern selbst, in aneinander gereihten Episoden, erzählt dieses wunderbar leise Buch vom Leben. Von Wahrheit, Realität, Trugbildern, Sehnsüchten und Ängsten. Und es zeigt auf ganz großartig poetische Weise, wie jemandem das eigene Leben und die eigene Realität langsam abhanden kommen. Die Umschreibungen der Lücken, die sich im Gedächtnis auftun und der Unsicherheit, die mit ihnen einhergehen gelingen hier so, als wäre es das leichteste auf der Welt, diese Reise fort von sich selbst, zu beschreiben.

 

Ein großartiges Buch zu einem schwierigen Thema, das sehr aktuell viele Menschen betrifft und welches es auch schafft, Verständnis zu vermitteln und Einblicke zu geben, ohne das Erinnern oder Vergessen als Makel zu betrachten.

 

Geeignet ist dieser sprachlich wunderschöne Roman meiner Meinung nach hauptsächlich für Frauen. Das Alter ist schwierig festzulegen. Man sollte jedoch schon gern und viel lesen, um mit den Sprüngen in der Zeit und der umschreibenden Sprache nicht überfordert zu sein.

 

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